Sehr geehrte Damen und Herren,
im Jahr 2019 feierte Deutschland das 70-jährige Jubiläum des Grundgesetzes. Im Land Baden-Württemberg können sich geflüchtete Menschen jedoch nicht auf die Wahrung ihrer Grund- und Menschenrechte verlassen. Wir haben ein Rechtsgutachten in Auftrag gegeben, das belegt: Die von Ihnen erlassene Hausordnung der Landeserstaufnahmeeinrichtungen ist in vielen Punkten eindeutig grundrechtswidrig.
In der Regel unterliegen Geflüchtete in der Erstaufnahme 18 Monate einer Wohnpflicht sowie einem Arbeitsverbot in den ersten neun Monaten. Neben diesen bundesgesetzlichen Restriktionen regelt vor allem die Hausordnung das Leben im Lager. In den Erstaufnahmelagern des Landes können viele Bewohner*innen ihre Zimmer nicht abschließen, stattdessen müssen sie regelmäßig Zimmerkontrollen – auch durch die Polizei – über sich ergehen lassen. Am Ein- und Ausgang finden Taschen- und Ausweiskontrollen durch Security-Firmen statt, es gilt ein weitgehendes Besuchsverbot. Lea-watch und weitere Freiburger Gruppen haben Sie neben den gesetzlichen Grundrechtseinschränkungen bereits mehrfach auf zusätzliche grundrechtswidrige Einschränkungen aufmerksam gemacht. Dies unter anderem durch einen Fragenkatalog an das Regierungspräsidium Freiburg im Herbst 2018 sowie durch die Veröffentlichung eines Grundrechte-Booklets. Entgegen dieser Einwände halten Sie an ihrer Praxis fest, indem sie am 1. Januar 2020 eine neue Hausordnung für alle Erstaufnahmeeinrichtungen in Baden-Württemberg erlassen haben.
Das von uns in Auftrag gegebene Rechtsgutachten zeigt, dass viele der darin enthaltenen Regelungen rechtswidrig sind und Grundrechte unterlaufen. So stellen sowohl die strengen Besuchsregulierungen als auch die regelmäßigen Zimmerkontrollen einen unverhältnismäßigen Eingriff in das Grundrecht auf Unverletzlichkeit der Wohnung dar. Aus dem Gutachten geht hervor, dass das Verbot jeglicher politischer Tätigkeiten auf dem Gelände eine Missachtung des Grundrechts auf freie Meinungsäußerung ist. Neben diesen konkreten Paragrafen kommt das Rechtsgutachten zu dem Schluss, dass die Hausordnung im Kern bereits dadurch grundrechtswidrig ist, dass es das Hausrecht ausschließlich der zuständigen Behörde zuschreibt. Durchgehend mangelt es an Rechtsbehelfsbelehrungen und Konkretisierungen, wann und in welcher Form die Eingriffe gerechtfertigt sind. Zudem fehlt es an einer Rechtsgrundlage, die es privaten Dritten (u.a. Security-Firmen) erlaubt, eigenständig Grundrechtseingriffe wie Hausverbote auszuführen. Insgesamt belegt das Gutachten, dass es für die Bewohner*innen kaum möglich ist, ihre Grundrechte wahrzunehmen. Stattdessen zementiert die Hausordnung einen Zustand, in dem die Grenzen zwischen Recht und Unrecht verschwimmen. Die Folge ist ein rechtlicher Graubereich, der Willkür befördert.
Als grün-schwarze Landesregierung favorisieren Sie die zentralisierte Lagerunterbringung mit einer Bewohner*innenanzahl von über 1000 Menschen. Die Massenunterbringung birgt ein enormes gesamtgesellschaftliches Konfliktpotential. Geflüchteten, die über einen langen Zeitraum isoliert von der Allgemeinbevölkerung leben, wird soziale Teilhabe effektiv verwehrt. Das geschieht, obwohl nicht wenige von ihnen trotz vermeintlich schlechter Bleibeperspektive lange bleiben werden. Im Lager erscheinen die Geflüchteten als gesichtslose Masse, womit die zentralisierte Unterbringung einen perfekten Nährboden für Vorurteile bildet.
Eine Hausordnung könnte in dieser ohnehin prekären Situation Schutzansprüche garantieren, stattdessen unterlaufen Sie mit der Hausordnung fundamentale Rechte. Zumindest, und das sollte eine Mindestanforderung an Ihre Behörde sein, gilt es, rechtsstaatliche Grundsätze zu achten. Eine Behörde, die das Grundgesetz feiert und es zugleich in eigenen Verordnungen missachtet, macht sich unglaubwürdig und schuldig.
Nach dem vorliegenden Rechtsgutachten ist es daher zwingend erforderlich, dass es in den Landeserstaufnahmeeinrichtungen zu sofortigen Veränderungen kommt:
1. Die Hausordnung in den Erstaufnahmeeinrichtungen ist grundrechtskonform zu gestalten.
Das bedeutet unter anderem:
· Bewohner*innen muss Besuch durch Außenstehende jederzeit ermöglicht werden.
· Abschließbare Zimmer für alle Landeserstaufnahmeeinrichtungen sind zwingend erforderlich.
· Eine Hausordnung muss Schutzansprüche der Bewohner*innen beinhalten. Hierfür ist eine Konkretisierung der Rechtseingriffe als auch eine maximale Transparenz zu den Rechten der Bewohner*innen nötig. Dies beinhaltet ein Verbot von unrechtmäßigen Zimmerkontrollen und Kontrollen der Zutrittsdokumente durch Dritte sowie den Verzicht auf Taschenkontrollen beim Betreten des Geländes.
· Die Möglichkeit der Selbstversorgung in den Erstaufnahmeeinrichtungen
· Bewohner*innen besitzen das Recht, Bild- und Tonaufnahmen auf dem Gelände zu machen.
· Bewohner*innen haben das Recht, sich auf dem Gelände politisch oder religiös zu betätigen. Dieses Recht beinhaltet unter anderem, dass Bewohner*innen ohne Weiteres Plakate oder Flyer verbreiten können.
2. Die Einrichtung von lokalen, unabhängigen Monitoring- und Beschwerdestellen
Konkret fordern wir die Installation von barrierearmen Beschwerdemöglichkeiten sowie eine ausreichende Information der Bewohner*innen über ihre Rechte und Rechtsschutzmöglichkeiten. Das landesweit vorhandene Ombudswesen ist hierfür unzureichend. Die jeweiligen ehrenamtlichen Ombudspersonen haben kein ausreichendes Deputat und sind durch die Nähe zum Regierungspräsidium nicht unabhängig. Wir fordern die Finanzierung von unabhängigen, lokalen Antidiskriminierungsstellen, die niederschwellig für Bewohner*innen zu erreichen sind.
3. Dezentrale Unterbringung für Geflüchtete
Konkret fordern wir Sie dazu auf, von ihrer Öffnungsklausel (§ 48 Nr. 1 AsylG) Gebrauch zu machen und Geflüchtete frühzeitig, spätestens nach drei Monaten, in die vorläufige Unterbringung zu verlegen.
Während der ersten Corona-Welle hat sich gezeigt, dass die Massenunterbringung von Geflüchteten ein enormes gesundheitliches Risiko für diese darstellt. Es wäre unverantwortlich, gerade jetzt in Anbetracht der Möglichkeit einer zweiten Corona-Infektionswelle, nicht die nötigen Konsequenzen auf politischer Ebene zu ziehen.
Wir erwarten Ihre Stellungnahme.
Die Unterzeichner*innen
Linke Liste – Solidarische Stadt
Natascha Sadr Haghighian
(Freundeskreis Asyl Emmendingen)
(Duale Hochschule BaWü)
(PH Freiburg)
(Duale Hochschule BaWü)
Prof. Dr. Barbara Schramkowski
(Duale Hochschule BaWü)
Prof. Dr. Barbara Stauber
Universität Tübingen
Prof. Dr. Barbara Schäuble, Berlin
Prof. Dr. Claus Melter
Fachhochschule Bielefeld
Prof. Dr. Nivedita Prasad
Alice Salomon Hochschule Berlin
Prof. Dr. Manuela Boatcă
(Soziologie Freiburg)